Lieder der Santals

Die Lieder der Santals feiern vor allem die frohen Anlässe des Lebens: Ernte, Liebe, Heirat, Geburt, Frühling. Doch mischen sich auch melancholische Töne darunter, etwa wenn sie sich an die Harmonie und Schönheit eines früheren Lebens in den Dörfern der Ahnen erinnern. Neben diesen traditionellen Themen entstehen heutzutage auch Lieder sozialen Engagements. Viele Lieder werden von Tänzen begleitet.

Die hier ausgewählten Liedtexte entstammen einer Sammlung von insgesamt 32 Liedern, die von uns im Buch "Alternative Dorfentwicklung in Indien" unter dem Titel "Mein Liebling spielt die Flöte - Lieder des indischen Santalstamms"  veröffentlicht wurden.

1   Als meine Schwester heiratete

  Ein Bruder singt über seine Schwester:
Als meine Schwester geboren wurde,
pflanzte ich einen Blütenbaum.
Als meine Schwester aufwuchs,
begann der Baum zu blühen.
Als meine Schwester heiratete,
ging sie weit weg jenseits vieler Flüsse.
Wird sie jemals zurückkehren?

  Die Schwester antwortet:
Gewiss werde ich zu euch zurückkehren.
Vielleicht noch nicht nach einem Jahr,
doch bestimmt nach fünf Jahren.
Ich werde euch mit einem Krug Wasser begrüßen.

Anmerkung: Die Heirat eines Mädchens ist  immer ein traumatisches Erlebnis für das Mädchen und die Angehörigen, weil es die Familie zum ersten Mal verlassen und in einer fremden Umgebung und mit fremden Menschen zusammenleben muss.

2   Du gehst weit weg

  Eine Ehefrau sagt zu ihrem Ehemann:
Du gehst weit weg nach Kalkutta um zu arbeiten.
Wie kannst du mich allein zurücklassen, unversorgt?

  Der Ehemann antwortet:
Zu Hause wohnen mein Vater und meine Mutter,
über ihnen wohnt Gott.
In ihrer Obhut lasse ich dich zurück.
Wenn ein Mädchen deinen Schoß verlässt,
wirst du es wie eine Prinzessin umsorgen.
Wenn ein Junge ankommt,
wirst du ihn wie einen Prinzen umsorgen.

Anmerkung:  Armut zwingt einen Mann, seine Familie zu verlassen, um in der Großstadt zu arbeiten. Die Frau ist schwanger, was den Abschied umso schwerer macht.

9   Oh-he, Großpapa!

Oh-he, Großpapa, du bist erstaunt
über die Schönheit der jungen Mädchen.
Du gehst umher und schaust sie dir an.
Betrachte sie weiter, wo du kannst.
Du besuchst den Markt und die Kirmes
und tanzt auf den Hochzeiten.
Du kommst den Mädchen nahe
und klatschst dabei in die Hände.

Anmerkung: Satire auf einen Großvater , der immer noch jung sein will, die Mädchen anschaut und von ihnen bewundert werden will.

18  Das Fest ist so groß wie ein Elefant

Die Kuh geht voraus,
dann folgt der Priester.
So groß wie ein Elefant ist das Fest herangekommen.
Schwester, wasche den Teller,
wasche die Schüssel, Schwester.
Ich will, Schwester, das Fest, das so groß
wie ein Elefant ist, willkommen heißen.

Anmerkung: Das Lied beschreibt die Freude über ein Fest; hier: das Sorai-Fest. Es findet Mitte Januar nach der Reisernte statt. Fünf Tage lang wird die gute Ernte gefeiert. Die Bedeutung des Festes vergleichen die Sänger mit dem größten und eindruckvollsten Lebewesen, das sie kennen: einen Elefanten.

19  Mein Liebling spielt die Flöte

  Ein Mädchen singt:
Auf der Höhe des Panchet-Berges
spielt mein Liebling die Flöte.
Gerade schöpfe ich Wasser  vom Teich;
während die  Flötenklänge alle meine Sinne erfüllen,
blühen sogar die matten Blumen
in meinem Haarknoten wieder auf.

Anmerkung: Dieser Liedtyp wird gern bei Versammlungen und verschiedenen Festen gesungen. Es soll die Stimmung heben, Müdigkeit bekämpfen und das Erlebnis der Gemeinschaft fördern. Oft ist es ein Dialog zwischen Jungen und Mädchen. Es gibt viel Raum für Improvisation.

28  Wohin, ach, sind wir gegangen?

Wie wunderbar das Champa-Land,
das Badoli-Land und das Koida-Land waren.
Wunderbar waren sie anzuschauen.
Hai Champa! Hai Badoli!
Wir haben euch verlassen. Wohin, ach, sind wir gegangen?

Anmerkung: Das Lied erinnert an die Ursprungsländer der Santals, die ihnen heute wie Paradiese erscheinen.

29  Vergieße deine Tränen um mich!

   Die Mutter zu ihrem Sohn:                                                                                  Wenn du mich zum Fluss bringst, mein Sohn,
dann spiele deine Flöte.
Lass mich mitten im Kaschai-Fluss treiben, mein Sohn.
Hast du mich im Fluss ausgesetzt, mein Sohn,
dann steh auf und vergieße Tränen.
Doch blicke nicht mehr zurück.

Anmerkung: Die Mutter spricht vor ihrem Tod zu ihrem Sohn. Jeder Verbrennungsplatz liegt an einem Fluss. Wenn die Leiche verbrannt ist, sammeln die Angehörigen die Knochen in einen Krug und lassen ihn auf dem Fluss hinunter treiben. Man stellt sich vor, dass jeder Fluss in den heiligen Fluss Ganges mündet.